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Kein Gott in der Nähe - Mutterland (Band 3)

 Kein Gott in der Nähe - Mutterland (Band 3)

Es war einmal

Nach Verenas Anruf konnte ich nicht anders. Ich vergrub mich in meinem Arbeitszimmer, nahm Aufzeichnungen der letzten Jahre aus dem Regal. Vom Hof her hörte ich immer noch Stimmen. Aus dem Zimmer nebenan drang Mutters Schnarchen. Mit ihr lebte das Haus wieder.
Das Leben lässt sich nicht fassen. Du greifst hinein, die Augenblicke rinnen wie Sand aus der Hand. Mutter sagte mal, sie sehne sich in bestimmten Situationen zurück. Sie kann alles genau vor sich sehen. Sie war erst sechzehn, als die Freundin ihr den Fritz vorstellte. Er war als Wehrpflichtiger in Stettin stationiert. Nimm keinen in Uniform, hatte ihr der Bruder geraten. Soldaten bleiben nicht lange an einem Ort. Sie gehen und lassen ihre Mädchen sitzen. Der Fritz nicht. Der war kein Draufgänger. Es hat gedauert, ehe er wagte, ihre Hand zu berühren und seinen Arm um seine Marie zu legen. Mutter hat mir das erzählt. Warum sollte sie mir was vormachen? Endlich beschützt werden. Sie hätte in der Großstadt untergehen können. Mit Fritz bekam ihr Leben Farbe. In diesen Augenblick kann sie nie zurück. Sie sieht ihn vor sich wie unter Glas. Das trennt sie von der Gegenwart. Fritz schrieb ihr nach seiner Entlassung aus dem Militär, er habe zu Hause alles vorbereitet, sie solle kommen. In diese Freude möchte sie noch einmal hineinrutschen. Es geht nicht. Nur Erinnerungen helfen. Die Reise von Stettin in den Harz war lang. Sie war noch nie allein weit weg gewesen. Einmal wurde sie vom BDM aus in den Schwarzwald verschickt. Davon erzählte sie gern. Vorher hatte sich nie einer um sie gekümmert. Bis auf eine Lehrerin in der Haushaltsschule. Nun hatte sie einen Freund, den Fritz, der sie zu sich nach Hause holte. Sie waren beide unerfahren. Sie war sein erstes Mädchen, er war ihr erster Freund. Wen sollten sie fragen? Sex war ein Tabuthema. Beim Gynäkologen holte sich Mutter Rat, sie dachte, die Schwierigkeiten, die sie miteinander hatten, lägen bei ihr. Der Arzt meinte nach der Untersuchung, er könnte mit ihr problemlos schlafen. Wenigstens gesund fühlte sie sich nun. Sie mussten beide lernen, sich nicht wehzutun. Er war ihr Mann und verlangte nach ihr. Sie wollte, dass er mit ihr zufrieden ist. Fritz war ihr Beschützer in der Verwandtschaft, die einer Städterin skeptisch begegnete. Es folgte für Mutter ein schweres Jahr, in dem sie Kühe melken lernte, Wolle spinnen und eine Harke richtig anzufassen. Sie schreckte vor keiner Arbeit zurück. Der Krieg begann. Fritz wurde eingezogen. Sie verloren sieben Jahre ihres gemeinsamen Lebens. Zum Glück kam er heil aus dem Feld zurück. Er erzählte nicht, was er erlebt hatte. Er sah nach vorn. Und er hat immer nach vorn gedacht und für die Familie gesorgt. Vorbei, alles war unwiederbringlich vorbei. Fritz war schon zwanzig Jahre tot. Sechzig gemeinsame Jahre hatten sie erlebt. Wo waren die geblieben? Die Familie ist groß geworden. Aber niemand kann ihr den Fritz ersetzen.

Jede Zeit hat ihren Platz. Der Wind streicht über verlassene Orte. Auch mich packte Sehnsucht nach dem Gestern. Lieber Kuckuck sag mir doch, wie viel Jahre hab ich noch? Jeder Abschied schmeckt schon nach Ende.
Wahllos schlug ich einen Ordner auf. Tagebuchnotizen, Klebezettel, Karten, Zeitungsausschnitte, SMS-Texte und ausgedruckte Mails, alles hatte ich säuberlich einsortiert. Ich versank in meinen Aufzeichnungen. Der Ausflug mit Hajo lag mehr als zehn Jahre zurück.
Ich rechnete nach. Die Zeit hat schnelle Füße. An das Wochenende erinnerte ich mich. Hajo hatte angefragt, ob ich Zeit für ihn hätte. Wir einigten uns auf den Sonnabend. Nachbarn wollen ausgerechnet an dem Abend mit uns grillen. Ich suche nach einer Ausrede. In der Nacht schlafe ich schlecht, weil ich mit Alex nichts geklärt habe. Am Morgen aber überwinde ich mich und rede mit ihm. Hajo wird mich abholen. Ich könnte ihm Hohenfeldenauer Umgebung zeigen, werde eine Textpassage vorlesen und muss ihn einiges über seine Klinik fragen, erkläre ich Alex kurz und knapp.
Er hat nichts dagegen. Danach geht es mir besser.
Alex entschließt sich kurzerhand, für ein paar Tage zu seiner Schwester zu fahren. Das passt gut. Er packt seine Reisetasche und fährt schon am Vormittag los. Mutter und ich winken ihm nach. Wie immer, wenn Alex mittags nicht da ist, kocht Mutter Pellkartoffeln. Dazu gibt es Matjes und Zwiebelringe. Am Nachmittag begleite ich Mutter treppauf in ihr Zuhause. Wir hatten ihr die Stube genauso eingerichtet, wie sie im Harz gewesen war. Ihr Kleiderschrank diente zugleich als Raumteiler zwischen Kammer und Garderobe. Ich stelle die Kanne Tee auf den Tisch, die Augentropfen auf das Tablett neben Tasse und Teller. Nachdem sie ihre Beine aus den Binden gewickelt hat, rutscht sie zurück in den Liegesessel. Sie schließt die Augen. Der erste Teil des Tages ist geschafft. Wir verabschieden uns. Ich fahre weg, sage ich, um sie darauf vorzubereiten, dass für ein paar Stunden niemand im Hause sein würde. Sie nickt dazu und protestiert. Ich bin kein kleines Kind. Du musst nicht auf mich aufpassen.
Ich beruhige sie, küsse sie auf die Stirn und verlasse den Raum.
Halb vier klingelt Hajo. Ich hole ihn rein, umarme ihn. Hajo überreicht mir ein Mitbringsel aus Aachen. Eine Spezialität. Aachener Printen, Kräuterlikör und Gebäck. Du magst zwar nix Süßes, sagt er. Die Printen sind für Alex und das Gebäck ist für deine Mutter.
Schläft sie?
Glaube nicht.
Er steigt zu ihr hinauf.
Na, sagt er und tritt dicht zu ihr heran. Wie geht es denn?
Mutter weiß sofort, wer da fragt.
Naja, sagt sie. Wenn es besser ginge, wäre es nicht auszuhalten.
Hajo stimmt zu. Er reicht Mutter das Gebäck.
Habe ich mitgebracht. Er wartet, bis sie versteht. Für die Marmelade. Aus Aachen, erklärt er.
Junge, Junge, sagt Mutter.
Aachen ist eben Aachen. Da kann ich nicht anders.
Wir haben den ganzen Schrank voll Marmelade, sagt Mutter.
Hajo legt seine Hand auf ihre Schulter, als er sich verabschiedet. Und immer schön trinken, verordnet er, als er die Teekanne sieht.
Bevor wir losfahren, geht Hajo über unseren verwilderten Hof. Sogar bis in den Garten treibt es ihn. Er zieht sich eine Möhre und kaut drauf los.
Du bist ein Dieb. Lass dich nicht von Mutter erwischen. Sie ist die Gärtnerin.
Als wir aus Hohenfeldenau rollen, erzähle ich Hajo vom Jahrhundertwerk, dem Wasserstraßenkreuz. Das könnte ich ihm zeigen. Das absolute Männerprogramm. Blick in und über Baustellen, in und auf Technik. Ob es ihn interessiert? Hajo ist mit allem einverstanden. Ich rede von alten Betonbecken, vom längst verwachsenen Kanalbett, den Betonruinen, Zeugen ehrgeiziger Pläne, die der Krieg beendete.
Wir besichtigen also. Zuerst die Doppelschleuse.
Der Nachmittag sonnt sich träge. Wochenendler bevölkerten jede Aussicht. Die gewaltsam veränderte Landschaft erinnert uns an den Kaliabbau. Die Halden am Horizont, weiße Kulissen steigen aus dunklen Wäldern.
Hajo besieht sich Info-Tafeln und Baustellen. Geschleust wird dann in beide Richtungen. Schiffshebewerk? Wird das nicht überflüssig?
Auf dem Weg zum Auto schüttle ich mir Sand aus den Schuhen. Wir folgen der alten Straße in den Nachbarort. Oben auf der Kuppe im Kurvenknie lenkt Hajo auf den Randstreifen. Wir steigen aus. Ich mache die ersten Fotos. Hajo zwischen Betonresten. Vielleicht ist das die letzte Gelegenheit, die verwachsenen Baustellen zu zeigen.
Auf der anderen Straßenseite fällt der schmale Straßenrand hinab in eine Mulde. Versteckt in einer grünen Bauminsel lässt sich ein Anwesen erahnen.
Dann rollen wir den Berg hinunter und verlassen die Hauptstraße. Vor uns der Parkplatz am Waldrand. Ausflügler. Ein Bus mit Aachener Kennzeichen. Aufbau Ost wird vorgeführt und bestaunt.

Ausgerechnet Aachen. Gibt es nun Zufälle oder nicht? Wir laufen durch den Herbstwald, der Aussicht entgegen, die den Blick auf Trogbrücke und Fluss freigibt. Hajo will wissen, warum die DDR den Kanalbau nicht vorangetrieben hat. Die Mittel werden nicht gereicht haben. Und vielleicht gab es auch einen politischen Grund. Hajo beguckt sich alles interessiert. Das technische Wunder wie in Minden. Einen Kanal über den Fluss heben. Ist doch verrückt. Ich erzähle von der Jahrtausenddisko, die im Trogbett geplant war und wegen mangelnder Beteiligung abgesagt wurde. Technik und Kunst, Technik und Kultur! Und alles mega. Das erinnert mich an Ferropolis. Ein gigantischer Wahnsinn.
Wir gehen zum Parkplatz zurück, beugen uns über abgestorbenes Holz, über Ameisenhaufen, sind ganz in der Natur, die unaufdringlich und bescheiden fortbesteht durch alle Menschenjahrhunderte mit ihren Schneisen aus Beton, Eisen und Chemie.

Der Himmel blaut ungeniert und Sonnenwege riechen verführerisch nach Herbst. Sorgenfreie Augenblicke. Wir rollen durch den Ort. Die Straße ist neu, manche Häuser haben sich herausgeputzt. Erhabene Landhäuser neben den typischen Bauerngehöften. Das alte Landgasthaus, einstige Diskohöhle. Wir folgen einander neugierig in verfallene Winkel der abgesperrten Ruine. Die einstige Seeterrasse wurde von Jahr zu Jahr brüchiger. Verfall, Verfall, nur die alten Kastanien tragen unbeirrt ihre Kronen. Ich erinnere mich an Frieders Skizzen. Für Ulrike war Frieder ein Genie. Sie waren damals sechzehn und trieben sich in Abrisshäusern rum. Frieder suchte die Einsamkeit. Die Eltern hatten ihn rausgeworfen. Ulrike brachte ihn mit in unsere Familie. Er konnte es nirgendwo lange aushalten. Auch nicht bei uns. Hätte ich damals Hajo gekannt, wäre Frieder vielleicht nicht zugrunde gegangen. Der Gedanke an ihn macht mich noch nach Jahren traurig. Ich erzähle Hajo von ihm. Frieder war ein unglücklicher Junge, der Stimmen hörte, die ihn in den Tod hetzten. Niemand hatte die Krankheit erkannt. Die Eltern weigerten sich über seinen Tod hinaus, von ihm zu sprechen. Zur Beisetzung waren sie nicht gekommen. Unsere Kinder konnten das nicht fassen. Sie trauerten mit den Geschwistern um ihn.
Zu spät, sagt Hajo.
Für Frieder war immer alles zu spät. Vermutlich von Beginn an.
Hajo meint das verfallene Gebäude.
Das war als Hotel ein beliebtes Ausflugsziel, höre ich mich erklären. Vergnügungsdampfer legten an.
Ich sehe Frieders trauriges Gesicht vor mir aufsteigen und plappere schwachsinniges Zeug. Genau unter solcher Oberflächlichkeit litt Frieder. Tiefe Empfindung stößt auf Smalltalk.
Ich vertreibe Frieder aus meinen Kopf. Unsere Nachbarin kann sich noch an das Hotel erinnern. So schnell geht das mit dem Verfall. Die Natur nimmt sich alles zurück.
Selbst wenn man viel Geld hätte, sagt Hajo. Es müsste alles abgerissen werden. Für die Kinder ist das, was man baut, mal nichts mehr wert. Oder glaubst du, deine Kinder ziehen irgendwann nach Hohenfeldenau?
Die Enkel vielleicht, sage ich zweifelnd. Magdeburg ist in der Nähe.
Was ist schon Magdeburg, sagt Hajo. Berlin, Hamburg, München sind Magneten.
Vielleicht, vielleicht auch nicht, denke ich.
Ich erlebe, wie Hajo im Verfall den Charme entdeckt.
Der Platz wär schon ideal. Hajo träumt.
Wir beschenken einander mit einer Kastanie.
Wieder an der Elbe, setzen wir uns auf eine Bank, sehen in die Strömung. Ich versuche zu erklären, was da am anderen Ufer zu sehen ist. Der Kirchturm eines Elbdorfes. Flussabwärts die Trogbrücke. An dem Tag, an dem sie eingeweiht wurde, war natürlich alles da, was da sein musste. Partei, Regierung und Presse. Menschenskinder, das ist ja ein Ostspruch, der von Partei und Regierung. Oder?
Woher weißt du, dass er Stimmen hörte?
Frieder? Seiner Schwester hatte er davon erzählt. Er ist nicht mal zwanzig geworden.
Hajo streckt sich lang aus. Sonne auf der Haut und der Fluss atmet leise.
Wir hätten ihm helfen können, sagt Hajo.
Wahrscheinlich, denke ich.
Vielleicht ist gerade deshalb der Schmerz um ihn wieder da. Ich spüre Frieder überall, wohin ich auch sehe. Er hat hier gesessen und skizziert. Die Dunkelheit hereinbrechen sehen, sich in hellen und dunklen Nächten verlassen gefühlt und das Dämmern im Morgenlicht erwartet. Ich war manchmal ungehalten, weil ich mich nicht auf ihn verlassen konnte.
Das gestehe ich. Hajo nickt dazu, als hätte er sich das denken können.
Das löst mich aus Schuldgefühlen. Dafür bin ich Hajo dankbar. Uns umspannt des Horizont, der himmelhoch aufsteigt und sich tief im Fluss widerspiegelt. Wir gehen den Weinberg hinauf und suchen uns einen Platz, von wo aus wir hinabsehen können. Elbe, Flussauen, dahinter die Stadt mit dem Dom. Umschlossen vom Industriegürtel. Rothensee im Sonntagsschlaf. Ballons schweben im Blau, Flieger zerkratzen den Himmel. Hajo sucht sich einen Platz auf dem Rasen. Ich setze mich in seine Nähe, blinzele in die Sonne und suche den schiefen Holzturm der Buga, der gar nicht weit weg ist und den ich doch nicht ausfindig machen kann.
Mir wird es auf dem Rasen bald zu kalt. Ich wandere unruhig um Hajo herum. Setze mich auf die Bank, die brav zur Aussicht einlädt. Die gemeinsame Zeit einfach nur vergehen lassen, empfinde ich als Zumutung. Ich umrunde Hajo mehrmals, lasse ihn Gräser und Blumen bestimmen. Er glaubt mir kein Wort. Wiesenstorchschnabel klingt ihm wahrscheinlich zu erfunden. Er streckt sich lang aus. Liegt im Gras mir zu Füßen, die Arme unterm Kopf verschränkt, blinzelt in den Himmel. Ich bestreue Hajo mit Grassamen. Hajo protestiert.
Du bist ein Dickhäuter, schimpfe ich. Deine Haut möchte ich nicht geschenkt haben. Ich knicke ein Blatt ab, streiche über Stirn und Nase, ziehe eine Linie um den Mund. Wer nichts fühlt, wird nicht geküsst, sage ich. Abrupt setzt er sich hin. Das kann er nicht haben, dass ihm einer seine sinnliche Wahrnehmung beleidigt.
Weil überall Gras ist, sagt Hajo. Da kann die Haut nicht noch Grassamen registrieren.
Ausreden, weiter nichts. Du fürchtest dich. Das ist alles. Könnte ja was Fürchterliches passieren.
Ich setze ihm einen Marienkäfer auf den Handrücken. Leute hocken hinter uns auf der Bank. Ich habe sie nicht kommen hören. Ich räume meine Tasche aus, um mich daraufzusetzen. Und dann lese ich in den Sonnenuntergang hinein. Wildgänse ziehen schreiend ihre Bahn. Romantik eines Sonntags am See steigt uns aus dem Fluss entgegen. Während ich die Stimmung aus Manuskriptseiten entstehen lasse, sieht Hajo in die rote Sonne. Von der Elbe herauf klingt ein Akkordeon. Ein Dampfer legt am anderen Ufer an. Ausflügler laufen durch die Wiesen. Das ist mein Hintergrund. Darauf lege ich die Bilder unserer letzten Begegnung, die ich aufgezeichnet habe.
Da sah ich Hajo im Bogen des Tages, der sich wie ein Augenlid hob. Alles war romantisch verseucht. Und dann zerkratzte ich die Idylle.
Du hast dich aufgeführt wie ein Blödmann. Der Satz steht da. Ich habe ihn geschrieben, ich muss ihn vorlesen. Das ist unser Deal. Gefühle unverfälscht widerzuspiegeln. Wir hatten uns an dem Abend für ein kleines Restaurant entschieden. Ein hübsches Mädchen bediente. Meine Aufzeichnungen gleichen an manchen Stellen einem Protokoll. Ich lese extra langsam vor, damit Hajo nichts überhört.

Hajos Blick bekam einen verdächtigen Glanz. Er sah dem Mädchen unverhohlen auf die Brust.
Guck dir diesen Kerl an, dachte ich. Hajo mutierte zum Gockel. In der Rolle hatte ich ihn noch nicht erlebt.

Erwischt. So sind halt Männer, sagt Hajo gutgelaunt, als ich mit dem Vorlesen fertig bin.
Du wärst doch am liebsten sofort mit dem Mädchen ins Bett gefallen, behaupte ich.
Hajo widerspricht. War nur eine Anmache.
Du warst geil auf sie. Glaub nicht, dass ich doof bin.
Glaube ich nicht, erwidert er amüsiert. Aber es gehört sich nicht, da hast du schon Recht.
Ich stecke das Skript zurück in meine Tasche. Mir ist kalt geworden. Die Sonne hat ihre Farben versenkt. Schon beim Lesen kriecht Kälte über meine Rippen. Aber nun klappere ich mit den Zähnen. Ich stehe auf und schüttele mich vergeblich. Warm wird mir nicht. Hajo weiß nicht recht, was er machen soll. Mit seinen Händen rubbelt er über meinen Rücken. Das tut weh.
Und dann nimmt er mich in seinen Arm, hüllt mich in seine Jacke mit ein. Das hilft.
Auf dem Weg zum Auto reden wir über Katharina. Es kriselt mächtig, sagt er. Und vorsichtig erinnere ich ihn daran, dass er mir letztens sagte, er wird nicht um sie kämpfen, denn er kämpft niemals um eine Frau, um eine Liebe.
Unter der Autobahnbrücke bleiben wir verzaubert stehen. Sie hebt sich gigantisch über den Fluss in den Abendhimmel. Ach wäre ich ein Maler. So aber muss ich nach Worten suchen. Immer nur Worte.
Ein Foto bringt das nicht, sagt Hajo.
Ich taumle ein bisschen. Zu viel Schönheit um mich herum. Das bleibt als Stimmung in mir auch als wir weitergehen.
Wir finden gerade noch zwei Plätze im Gasthaus, in dem gehochzeitet wird. Hajo schwärmt mal wieder von dem Haus, das er bauen wird und in dem er nicht allein leben will. Nur jetzt könne er sich nicht für das Zusammenleben mit einer Frau entscheiden.
Das Brautpaar feiert laut an uns vorüber. Die Armen, denke ich oder sage ich das? Hajo lächelt wissend in sein Glas.
Es ist dunkel, als wir zurückkommen. Hajo lässt mich aussteigen und fährt gleich weiter.
In mir summt der Nachmittag. Ich melde mich bei Mutter zurück. Sie sieht nur kurz vom Fernseher auf.
Alex hat noch nicht angerufen. Er muss längst bei seiner Schwester angekommen sein.

Ich klappte den Ordner mit meinen Eintragungen zu und stellte ihn ins Regal zurück. Wie schnell die Jahre vergangen waren. Unglaublich. An Kindern und an alten Leuten sieht man das besonders krass. Wohin läuft die Zeit mit ihren schnellen Füßen? Und wir rasen mit. Das Bild wurde ich nicht los. Ganze Landschaften verändern sich. Das Wasserstraßenkreuz ist längst in Betrieb. An das verwilderte Kanalbett erinnert nichts mehr.
Der Abend hatte den Himmel geschwärzt. Auf dem Hof war es still geworden. Ich ging zu Mutter rüber, blieb mitten im Zimmer stehen und hoffte, ein Lebenszeichen wahrzunehmen. Ich hielt die Luft an, trat näher an ihr Bett. Ihr Atem war nicht zu hören. Vorsichtig tastete meine Hand über ihr Bett. Ihre Hand zuckte bei der Berührung und löste mich aus der Ungewissheit. Mutter schlief.
Mutter schlief auch noch am Morgen fest. Wir frühstückten ohne sie. Unsere Stimmung war gedrückt. Wird Mutter sich wieder erholen? Wird sie wie bisher ein paar Stunden auf den Beinen sein können. Und wenn nicht? Wir schoben die Frage weg.
Mutter hat einen starken Lebenswillen. Wenn es darauf ankommt, kämpft sie. Wir dürfen sie nicht im Stich lassen. Aber wir haben auch nur ein Leben. Mit dem Aufopfern ist es so eine Sache. Das macht alle nur kaputt.
Es war zu früh, um sich auszumalen, wie wir unser Leben organisieren werden, wenn Mutter bettlägerig würde. Ohne spürbare Einschränkungen wird ihre Versorgung nicht möglich sein. Fremde müssten Pflege übernehmen. Fremde ins Haus holen, das lehnte Mutter bisher kategorisch ab. Solche Gespräche machten sie böse. Wir beruhigten uns alle drei.
Noch ist es nicht so weit, sagte Alex zu mir. Jeder von uns beiden wird etwas aufgeben müssen. Wie wir es auch drehen, es bleibt eine Gratwanderung.

dorise-Verlag 2016, ISBN 978-3-942401-98 - Link: Kein Gott in der Nähe - Mutterland (Band 3)

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