Über Engel, Lyrik und Prosa von Heike F. M. Neumann
Als mich Heike Neumann neulich fragte, ob ich wieder ein paar Gedanken zu ihrem neuen Buch "Da fand ich seinen Schatten" schreiben möchte, sagte ich sofort zu, ohne zu wissen, was sich dahinter verbarg.
Nun halte ich es in den Händen und frage mich, wie soll ich, Naturwissenschaftlerin und Atheist etwas über der Bibel entstammende Engel schreiben? Zum Glück gibt mir der Untertitel "oder die Anwesenheit von Licht" einen Anhaltspunkt.
Habe ich doch ganze Vorlesungen über den Dualismus des Lichtes, seinen Doppelcharakter, sowohl Materie, also Teilchen zu sein und gleichzeitig als Welle aufzutreten, gehört. Beides ist wissenschaftlich nachgewiesen. Sollte es mit den Engeln etwa ähnlich sein? Bis jetzt hat sie niemand gesehen und doch spielen sie eine große Rolle im Leben der Menschen. Sie entstammen unserer Fantasie, wir hoffen auf ihre Hilfe und ihren Beistand und am Ende bedanken wir uns und sehen sie leibhaftig vor uns.
Genau diesen Bogen spannt Heike F. M. Neumann, beginnend im biblischen Bereich über die Betrachtungsweise der Klassiker wie Goethe und Heine bis in die Neuzeit von Barlach und Kirsch.
Wer hat nicht schon einmal zu seinem Kind oder Enkelkind in großer Liebe "mein kleines Engelchen" gesagt, erinnernd an das pausbäckige Engelsgesicht im Gemälde der "Sixtinischen Madonna"? Man wünscht seinem Kind bei der Geburt Augen, die um sich herum alles sehen und verstehen; einen Mund, der Gedanken in Worte fasst, die Wahrheit sagt, auch wenn sie unbequem ist; optimistisch in die Zukunft geht und Hindernisse überwindet, selbst wenn es dazu manchmal "Flügel" braucht ("Drei Wünsche bei deiner Geburt").
Die kleinen Engel wachsen heran, Eltern sehen es mit einem lachenden und einem weinenden Auge, wenn die Wünsche bei der Geburt in Erfüllung gegangen sind und die Kinder in Menschenform "ausfliegen" ("Junge Engel").
Die "Engel der Liebe" sind überall, sie kommen als Hauch, kaum zu fühlen um "schwebend" zu bleiben. Wer hat die "Schmetterlinge im Bauch" nicht schon einmal erlebt ("Engel der Liebe")?
Engel spenden Trost und geben Hoffnung bei Krankheiten ("Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch") und selbst im Tod "halten sie uns die Steigbügel" ("Von den zärtlichen Engeln"). Sie erinnern uns auf stillen Friedhöfen an Verstorbene, die wir kannten, schätzten und nicht vergessen sollten ("Friedlicher Ort"/Familiengrabstätte der Fam. Reissmann).
Es ist heute üblich, einen Talisman, häufig in Engelsform zu verschenken und einen lieben Menschen vor Gefahren zu warnen und zu schützen. "Fahre nicht schneller als dein Schutzengel fliegen kann" ist ein weit verbreiteter Slogan und die Engelsfigürchen sind lustig.
Auch diese Seite der Engel kommen bei Heike F. M. Neumann nicht zu kurz ("Talisman" mit Bild "Fröhlicher Engel" von M. Kolp).
Einen großen Raum nimmt die Rolle von Engeln beim Wunsch nach Frieden ein. Der Traum der Menschheit vom Leben in Frieden ist alt und doch zu jeder Zeit aktuell. Nach geschlagener Schlacht werden von den Siegern vergoldete Engel auf hohen Säulen, weithin sichtbar, gesetzt. Sie verkünden den Frieden, als sei er in den "goldenen Schoß" gefallen. Woher aber stammt das Gold, etwa aus der Kriegsbeute? Da drängen sich mir Bilder vom riesigen Eisenkreuz in Le Puy (Frankreich) auf, das aus der Beute des Krimkrieges stammt und heute zum touristischen Fotomotiv verkommen ist. Ebenso lassen mich die Fragen des lesenden Arbeiters (Brecht) "wer baute das siebentorige Theben?, nicht los…
Damit setzt sich Heike Neumann fragend auseinander, "was verschweigt er", "wovor verschont er uns"? ("Dieser Engel").
In den folgenden Gedichten geht sie noch weiter.
Er umarmt den Hass
Und verfolgt den Neid
Er entkommt mit Mühe um nicht erschlagen zu werden
Findet aber Zutritt zu Menschen und Medien ("Der Engel des Friedens")
Das ist eine Anleitung zum Handeln für Mensch gewordene Engel, die Triebkräfte für Kriege:
Neid, Hass und Gier zu besiegen und Frieden zu schaffen, in dem es keine Sieger und keine Verlierer gibt. Das ist auch für Engel nicht leicht. Alleine, die Wahrheit zu verkünden kostet Mut und Kraft ("Meinem Engel") und wie es G. Gysi formulierte, in einem Krieg "stirbt die Wahrheit zuerst" (G. Gysi, Rede vor dem Bundestag, März 2022 anlässlich des Ukraine Krieges).
Die Mensch gewordenen Engel müssen aktiv werden, dürfen nicht verzagen und "Liebe, Glaube und Hoffnung" verbreiten ("Wenn der Engel des Friedens").
Je länger ich mich mit dem vorliegenden Gedichtband beschäftige umso klarer wird mir, wie aktuell die Gedichte sind. Sie wurden klug zusammengestellt, alle Facetten des Lebens beleuchtet und die Stärke der "leisen Töne" herausgestellt.
Heike F. M. Neumann gelingt es, den tiefen ehrlichen Glauben in einer Religion mit dem realen Leben zu verbinden.
Die ausgewählten Bilder passen exzellent zu den jeweiligen Gedichten. Sie stehen nicht neben den Zeilen, sie bilden eine Symbiose mit ihnen.
Der Gedichtband ist tiefgründig und lesenswert, man sollte aber ausreichend Zeit mitbringen. Für ein schnelles Überfliegen sind die Gedichte einfach zu schade.
Dr. Gabriele Schubert
Das Buch erschien unter ISBN 978-3-946219-56-9