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Weiß blüht Mohn in der Dämmerung (Artikelnummer: ISBN 978-3-942401-39-5)

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Diese Anthologie ist eine Sammlung unterschiedlicher Handschriften und verschiedener Talente. Die Autoren dieses Bandes führt zusammen, dass sie vielfach unter den Fittichen des "Pelikans" schreiben, des Vereins, der sein Nest im Jerichower Land, in Sachsen-Anhalt hat. Sie haben unterschiedliche soziale Erfahrungen und Anbindungen. Manche leben in geschützten Räumen, schreiben ihre Texte und Lebenserinnerungen unter künstlerischer Betreuung, andere wirken selbst als Betreuer. In kurzen Episoden und literarischen Schlaglichtern wird sichtbar, wie eine Generation Schreibender fühlt und denkt in dieser Zeit, in der Bemühungen um Frieden permanent im Focus sind. Es ist eine Zeit, in der viele ältere Schreibende ihr Kindheitstrauma des Krieges immer noch verarbeiten, aber jüngere auch schon durch gravierende gesellschaftliche Umbrüche Schaden an der Seele genommen haben, beschädigt sind, weil Arbeits- und Lebensleistungen nichts mehr wert sein sollen, sondern nur das, was zwischen Daumen und Zeigefinger gerinnt oder unterm Strich rauskommt. Gegen solche materialistischen Einstellungen und den Verfall sozialer Werte schreiben viele der Autoren immer wieder an. Einer resümierte: Unsere Kinder, Enkel und Urenkel zahlen die Zeche.

Günter Hartmann

Textauszug:

Annette Kühlmann - Blickwechsel


Vor kurzem besuchte ich meine Großmutter. Sie wohnt immer noch in dem Dorf, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte. Wie lange war ich nicht mehr dort. Ich freute mich darauf, sie und meine alte Heimat wiederzusehen.
Als ich mit dem Zug zu ihr fuhr, sah ich sie vor mir: Ihr liebes und gütiges Gesicht. Ihre rauen und doch sanften Hände. Immer hatte sie ein liebes Wort für mich, einen Trost, wenn ich traurig war. Am schönsten war es, wenn sie mir vorlas oder Geschichten erfand. Eng an sie gekuschelt lag ich neben ihr auf dem Sofa. Wie aus dem Nichts zog sie mich in den Bann spannender bildhafter Geschichten.
Als wir umzogen - ich war ungefähr 12 Jahre alt - ließ ich mit ihr auch meine schönste Kinderzeit zurück. Meine Freundin aus dem Nachbarhaus, mit der ich alles teilte, den großen, verwilderten Garten, mein Geheimversteck im Gestrüpp am unteren Bachlauf. Ich wollte nicht weg. Kurz bevor der Umzugswagen losfuhr, drückte mir meine Oma einen selbstgenähten Hasen in die Hand. "Damit du unsere Häschengeschichten nicht vergisst", sagte sie. Gleich auf dieser, seiner ersten Fahrt wurde Morka tränennass.
Nun, über 30 Jahre später, stand ich wieder vor dem alten, ehrwürdigen Haus meiner Kindheit. Der gleiche Glockenklang ertönte, als ich auf die Klingel drückte. Beim Warten zog der Duft frisch gemähten Heus in meine Nase. Es war Sommerende. Dann hörte ich sie. Ganz langsam schlurfte sie den Gang entlang.
"Hallo Omi", sagte ich. Doch sie schaute mich argwöhnisch an: "Wer sind Sie?" "Aber Omi. Ich bin es, Janett, deine Enkelin Janni. Erkennst du mich denn nicht?" - Immer noch starrte sie mich mit einem skeptischen, ja fast abweisenden Blick an. Erst als ich Morka aus dem Rucksack holte und beteuerte, dass sie ihn genäht hat, ließ sie mich in ihre kleine Küche.
Ob sie ihn erkannt hat? Ich wusste es nicht. Immer noch spürte ich ihren Argwohn und die Fremdheit zwischen uns. Meine Mutter hatte mir von der Vergesslichkeit meiner Großmutter erzählt. Aber das hier war schlimmer. Sie hatte keine Erinnerung mehr. Dabei hatte ich mich auf ein fröhliches Erzählen über unsere gemeinsame Vergangenheit gefreut. Ja, heimlich hatte ich gehofft, dass sie mir eine der alten Geschichten erzählt. Ich war enttäuscht, ärgerte mich über meine Naivität. "Und? Was soll ich jetzt mit ihr reden?", dachte ich bedrückt.
"Möchten Sie noch eine Tasse Kaffee?" Ihre Frage riss mich heraus aus meinen traurigen Gedanken. "Nein, danke", sagte ich. "Gut, dann spielen Sie eine Runde 'Mensch ärgere dich nicht' mit mir", sagte sie bestimmt und holte das alte, vertraute Spielbrett meiner Kindheit hervor. Erstaunt über diese Wendung ließ ich mich darauf ein. Und dann ging es richtig zur Sache. Eh ich mich versah, hatte sie mich besiegt. Ob ich Revanche möchte? Ja, klar. Aber jetzt passte ich mehr auf. Ich erwischte sie beim Mogeln und protestierte. Sie lächelte verschmitzt. Es wäre nur ein Versehen. Und wie schimpfte sie, als ich ihre Figur kurz vor dem Häuschen schlug. Aber Aufgeben kam nicht in Frage. Voll Ehrgeiz drängelte sie mich zur Eile. Trödeln war verboten. Wir lachten, schimpften, unsere Gesichter glühten. Die Fremdheit und die vornehme Zurückhaltung waren wie weggeblasen. Ja, so kannte ich meine Omi: forsch, ehrgeizig und vital. Mit einer blühenden Phantasie ausgestattet, die sie hier beim Ausdenken von Ausreden oder neuen Regeln einsetzte. Auch die Wärme und das innere Leuchten konnte ich wieder spüren.
Wir hatten so viel Spaß, dass ich die Zeit völlig vergaß. War es noch wichtig? Was spielte es für eine Rolle, ob sie wusste, wer ich bin? Nur die Gegenwart zählte. Ganz hier sein ohne den Ballast der Vergangenheit und die Sorge um die Zukunft. Beneidenswerte Omi.
Zum Abschied umarmte ich sie und küsste sie auf die Wange. Verblüfft ließ sie es geschehen. Als ich in den Zug stieg, streifte der Abendwind mein Gesicht. Ein farbiges Ahornblatt flog direkt vor meine Füße. Vorboten des nahenden Herbstes.

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