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Massage, Handküsse und teures Parfüm (Artikelnummer: ISBN 978-3-942401-83-8)

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Nach den erfolgreichen Veröffentlichungen von "Klar, der Strand war schön" und "Grüne und warme Pferde konnte ich sehen" liegt nun der dritte Erzählband der Macherei vor. "Massage, Handküsse und teures Parfüm" versammelt 59 Erzählungen von 50 Autorinnen und Autoren. Die Erzählungen wurden in den vergangenen vier Jahren in der Schreibwerkstatt der Macherei und den inklusiven Schreibkursen der Lernerei erarbeitet. Im gleichberechtigten Nebeneinander der Texte von Autorinnen und Autoren mit und ohne Beeinträchtigung besteht das Besondere seines Formats.

Sofern ein solches Format noch als besonders gilt, ist die Ferne zur realisierten Vision von Inklusion markiert. Die Möglichkeit eines solchen Formats verdeutlicht zugleich die sich erweiternden Denk- und Handlungsspielräume unserer Gesellschaft auf dem Weg der Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Das realisierte Nebeneinander der Texte in diesem Band verweist dabei auf den Gewinn verwirklichter Inklusion: eine Vielfalt, die in ihrem Neben- und Miteinander bereichert und inspiriert.

Textauszug:

Drache

Sigrid Brabant

Ich wollte keine Zeit für das Atmen verlieren. Atmen war überflüssig. Mein Gesicht brannte. Ich konnte aber nicht aufhören. Ich schaufelte und schaufelte Suppe in mich hinein. Mein Bauch quoll schon richtig auf. Schweiß und Tränen vermischten sich. Da merkte ich plötzlich, dass jemand neben mir stand. Kurz hörte ich auf zu essen. Ich musste aufhören. Ich holte tief Luft. Meine Speiseröhre und mein Magen taten mir weh. Mir war schwindelig. Ich hatte völlig das Zeitgefühl verloren. Neben mir stand Ursula. In ihren Augen war Angst. Sie schaute in den halbleeren Topf. Der war eigentlich für 60 Kinder bestimmt. Jetzt reichte es nur noch für die Hälfte. Ich übergab mich und weinte, weil ich wieder Hunger bekam und weil ich nicht sagen durfte, warum ich diesen Hunger hatte. Zum Glück fragte sie mich nicht. Sie gab mir ein Tuch, kippte Wasser in einen Topf, schaltete den Herd an und holte Gewürze. Dann kochte sie einen Tee und gab ihn mir. Ich schluckte das heiße Wasser hinunter. Ich merkte, wie ich mir dabei die Lippen verbrannte, aber es tat gut. Es verbrannte auch den Hunger. Heißes Wasser. Das muss ich mir für morgen merken. Morgen hatte ich nämlich keinen Dienst. Ursula riss mir die Tasse aus der Hand, aber es war schon spät. Ich hatte schon alles ausgetrunken. Meine Hände zitterten. Ich hatte Angst, meinen Job zu verlieren. Hier konnte ich essen und trinken.
Ich bin eine in einer Steißlage geborene Spastikerin. Vielleicht konnte meine Mutter mir genau das nicht verzeihen. Ich weiß dabei aber nicht was, die Steißlage oder die Spastik. Sie schlug mich mit einem Puppenstuhl, einem Gurt oder der bloßen Hand. Ich konnte mich dann nur mit einer Hand schützen. Die zweite hasste ich. Die war spastisch. Deswegen hasste mich meine Mutter. Ich hasste meine ganze rechte Seite. Wenn sie mich schlug, versuchte ich ihr meine rechte Seite hinzudrehen, damit sie die richtige Seite traf.
Ich durfte auch nicht essen und kaum trinken. Vielleicht wollte sie die Spastikerin in mir aushungern. Vielleicht hoffte sie, dass, wenn die Spastikerin in mir stirbt, nur das gesunde Mädchen übrig bleibt. Mein Vater kam nur am Wochenende nach Hause. Er schaute mich an und sagte: Mann, Mann. Du musst ein bisschen mehr essen. Du siehst aus wie ein Strich. Ich schaute meine Mutter an. Sie lächelte mich an und ihre Augen fixierten mich. Ich schwieg wie immer und kuschelte mich an meinen Vater. Ein wenig Wärme tut gut. Natürlich kuschelte ich mit der gesunden Seite an ihm. Die rechte hatte sich das nicht verdient. Sie war an allem schuld. Am Wochenende aß ich mit der ganzen Familie am Tisch. Ich stopfte unkontrolliert Essen in mich hinein. Meine Mutter drückte unter dem Tisch auf meinen Fuß. Ich wusste genau, was das hieß, und fing an langsamer zu essen. Sie drückte aber meinen Fuß nochmal. Es war ihr noch nicht langsam genug. Meine Angst war stärker als mein Hunger. Angst überwiegt alles. Hunger, Durst, Liebe und Schläge. Dann fing meine Mutter an, den Tisch abzuräumen. Natürlich meinen Teller zuerst. Mann, sagte sie, hast du wieder so wenig gegessen. Da braucht man sich nicht zu wundern, weshalb du so dünn bist. Ich guckte nach unten. In all den Jahren hatte ich gelernt, die Tränen nach innen laufen zu lassen. Es tut gut und dafür wird man nicht bestraft. Eines Tages schaffte ich es zu fliehen. Per Anhalter nach Buch, zu meinem Kinderarzt. Er schickte mich zur Kinderstation. Dort gab es einen freien Platz. Damals war ich 22 Jahre alt. Die Wochen vergingen und ich konnte mich immer noch nicht daran gewöhnen, dass es keine Schläge gab. Beim kleinsten Geräusch zuckte ich zusammen. Bei der kleinsten Bewegung von den Ärzten schützte ich meinen Kopf und versuchte, ihnen meine rechte Seite hinzudrehen.
Eines Tages kam sie. Ich sah sie schon von weitem. Ihr roter Mantel wehte. Sofort dachte ich an die Worte meines Bruders. Er sagte immer: Da kommt der rote Drache. Ich wusste nicht, ob ich weglaufen sollte oder zu ihr hin. Sie umarmte mich nicht. Sie machte mich bei allen Leuten schlecht und erzählte, dass ich eine Lügnerin bin. Als sie ging, fehlte die Handtasche der Schwester. Sie verdächtigte sofort meine Mutter. Ich verteidigte sie und sagte, dass meine Mutter so etwas nie tun würde. Auch Rabenkinder lieben ihre Eltern. Sie starb früh wegen ihrer Kettenraucherei und des Alkohols. Sie starb, ohne mir nur einen Kuss zu geben. Sie ist gegangen und die Angst ist geblieben.
Gestern sah ich eine Frau. Sie sah auch aus wie ein Drache und sie rannte auf ihr Kind zu. Ich bekam Angst und schützte meinen Kopf. Es passierte nichts. Dann traute ich mich hinzuschauen. Sie umarmte ihr Kind und lachte. Ich sah ihnen zu und lachte. Die Frau winkte mir zu und ich zurück, aber sicherheitshalber drehte ich ihr meine rechte Seite zu.

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