Seit einigen Jahren treffe ich in der Harzstadt Wernigerode Schreibende und Malende mit einem oder auch mehreren Handicaps.
Einen ganzen Tag lang arbeiten sie an Texten und Bildern, stellen die Arbeiten anderen, einem Publikum, vor, wie zum Beispiel zu den Landesliteraturtagen 2015. Dort hörte auch der stellvertretende Bürgermeister Wernigerodes Andreas Heinrich aufmerksam zu, lobte ausdrücklich die Arbeiten der Teilnehmer dieser Schreibwerkstatt.
Über so viel Aufmerksamkeit sind die beteiligten Autoren zu Recht stolz. Wann steht man denn schon einmal mit dem, was man tut, schafft, sich ausdenkt, so im Licht einer Öffentlichkeit.
Es kommt doch seltener vor, dass Menschen, die gesundheitlich eingeschränkt sind, für ihre Leistungen durch andere oder überhaupt durch die Gesellschaft ohne Wenn und Aber anerkannt werden.
Hier in Wernigerode ist dies der Fall.
Günter Hartmann
Textauszug:
Ulrich Nockur
Jahrgang 1952. Ulrich Nockur arbeitet in einer Beschützenden Werkstatt und lebt im Wohnheim. Ulrich leidet unter seiner Schwerhörigkeit, weil er sich dadurch ausgegrenzt fühlt. Trotzdem lebt er ein selbstbestimmtes Leben. Er engagiert sich in der Kirchengemeinde, ist immer in Bewegung, er liebt Musik und die Natur. Unermüdlich schreibt er über seine Wanderungen, was er liebt, was ihn stört und was er ändern möchte. Er ist selbstkritisch, entschuldigt sich bei seiner Schreibmaschine, weil er sie ständig quält.
Ausgelacht und abgelehnt
In meiner Kinderzeit in den frühen 1960er Jahren fiel der Sportunterricht oftmals spät auf die letzten Schulstunden. Damals war noch alles streng getrennt, Mädchen und Jungen. Die Mädchen hatten ausgebildete Lehrerinnen, die zugleich Haushalt unterrichteten, nicht aber die Jungen. Es waren normale Lehrer, die auch Sport unterrichteten. Und ich war nun einmal langsam in meiner Entwicklung. Die Kameraden wollten hektische Ballspiele machen:
Völkerball, Basketball und so. Und wenn meine Gruppe verlor, schimpften sie mit mir und lachten mich aus, wollten mich nicht dabeihaben. Schon im Kindergarten merkte man, dass meine Entwicklung langsamer ging und gestört war. Dabei war meine Konzentration um die Mittagszeit nach den anderen Stunden so verbraucht, dass ich eben langsamer war und reagierte. Ganz schlimm war es auch mit dem Rechnen.
Ich kam dann in eine Heimschule, wo es besser war, sogar mit dem Sport. Aber auch diese Zeit musste irgendwann aus alters- und gesundheitlichen Gründen unterbrochen werden.
Ich trage schwer am Alltag und an den Blessuren des Alters. Wie ich über diese Zeiten hinwegkomme, schildere ich. Es geht mir ein Liedtext durch den Kopf, den wir in unserer Werkstatt gerne singen und der meine Situation schildert und diese Jahreszeit des Herbstes, wie ich es schon einmal in einem Gedicht ohne Reim niederschrieb.
Es steht ein Baum im Garten,
der winkt herbei den Wind,
will ein paar Nüsse schütteln
für ein nussbraunes Kind.
Laterne, ach Laterne,
leit mich durch diese Nacht.
Den Herbst, den hab ich gerne,
der hat mir viel gebracht.
Es steht ein Mann im Garten,
schwenkt seinen hohen Hut,
lässt lauter Brezeln springen,
die schmecken uns so gut.
Laterne, ach Laterne,
leit mich durch diese Nacht.
Den Herbst, den hab ich gerne,
der hat mir viel gebracht.
Es steht ein Haus im Garten,
hat alle Lichter an.
Es wird noch lange dauern,
bis ich drin wohnen kann.
Laterne, ach Laterne,
leit mich durch diese Nacht.
Den Herbst, den hab ich gerne,
der hat mir viel gebracht.
Das Lied vom Baum im Garten,
das geht von Haus zu Haus,
fliegt mit den stillen Eulen
weit in die Welt hinaus.
Astrid Baumann
Jahrgang 1960. Astrid Baumann meistert ihr Leben auf ihre Weise. Familienverlust, Klinikaufenthalte. Sie kann sich zurückziehen, sich auf sich konzentrieren und Kraftsammeln. Schreiben ist ihr sehr wichtig. Darin drückt sie ihre Befindlichkeiten aus, ihre Texte machen nachdenklich und rütteln auf.
Das bin ich
Kein Mensch auf dieser Welt kann etwas für die Dinge, die ich mir selbst und die mein Schicksal mir angetan haben. Sie geschahen, bevor ich mir die richtige Zeit nahm, darüber nachzudenken und sobald sie geschehen waren, zwangen sie mich, andere Dinge zu tun. Bis ich schließlich zwischen mir und der Frau stand, die ich sein wollte und mein wahres Selbst fast für immer verloren habe.