Wir haben über Gartenzäune, auf Höfe, in Gedankenhäuser und Gefühlswelten gesehen. Manche Türen öffneten sich wie von selbst und wir wurden gebeten, einzutreten. Meistens saßen wir uns gegenüber. Ich versuchte, Leben zu erfassen und es authentisch darzustellen. Ganz unaufdringlich spiegelt sich gesellschaftliche Entwicklung wider. Sie ist Nährboden unseres Lebens.
Auch Kathrin Wöhler war unterwegs zu einigen Niegrippern.
Ihr Credo: In jedes Gespräch gehe ich mit dem Wunsch, zum wahren Wesen eines Menschen vorzudringen - und dafür anschließend auch noch die richtigen Worte zu finden.
Das Buch soll nicht ins Korsett des "Gefällt-mir-Zwangs" gedrückt werden. Gefälligkeit bis zur Banalität langweilt.
Ich empfinde, wie ich das bei Byung-Chul Han, Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin, in seinem Buch über die Palliativgesellschaft nachlesen konnte. Schmerz und Glück sind Geschwister.
In der Wohlfühlzone, in der wir verharren, wird das Glück fad. Der Kick muss her. Und doch bleibt das Gefühl von Leere.
Edel Schimansky schrieb zum Skript:
Es ist ein interessantes Buch über ein kleines Dorf entstanden, das erst, nachdem so viele Geschichten erzählt und aufgeschrieben wurden, richtig ins Bewusstsein rückt. Eine vergnügliche Erinnerung, mehr oder weniger reflektiert, aber nie langweilig. Mit literarischen Höhepunkten und sympathischen Beschreibungen von Menschenleben, die nachdenklich machen.
Dorothea Iser
Textauszug:
Dorothea Iser
Ich hab Freude am Leben
Gesprächsnotizen vom 4. März 2020
Gisela Ohlendorf wohnt gleich am Wall. Das verriet mir ihre Tochter Ulrike. Ich traf sie im Heimatverein. Da wurde gerade über den Niegripper Kultursommer diskutiert. Zufällig gab sie sich mir zu erkennen und schickte mir prompt die Telefonnummer auf mein Handy. Die Häuser reihen sich aneinander.
So in erster Reihe an der Elbe zu wohnen, denke ich, als ich vor ihrer Tür stehe. Der Wall schwenkt ab zum Fluss und gibt den Blick über die Elbwiesen frei.
Meine Eltern hatten nie Angst vorm Hochwasser, erzählt mir Gisela Ohlendorf. Wir setzen uns an den Tisch. Ich höre ihr zu.
Papa hat immer gesagt, ich gehe nicht weg, auch nicht, wenn die große Panik ausbricht wie 2013. Ehrlich gesagt, ich wage es kaum auszusprechen, wir haben von jedem Deichbruch, der oberhalb von uns war, profitiert, weil dann das Wasser vor uns abfloss. Und jetzt sind viele Deiche saniert worden. Die werden beim nächsten Hochwasser halten.
Ich erzähle ihr von den Plänen. Bis 2020 sollen die Sanierungen abgeschlossen sein.
Gisela Ohlendorf zweifelt. Was ihr Vater dazu sagen würde? Sie streckt den Zeigefinger Richtung Himmel und hebt die Schultern.
Ihr Vater war Jahrgang 1928. Er kam 1933 mit seiner Schwester Elsa nach Niegripp. Sein Vater, Opa Gustav, fing in dem Jahr als Schäfer an. Gewohnt hat die Familie, wie es in Niegripp üblich war, im Schäferhaus. Das stand auch gleich hinterm Deich.
Gegen Ende des Krieges haben sie Giselas Vater noch zum Militär geholt. Er hatte auch Schäfer gelernt und sollte nun schießen. Er wurde nach Russland geschickt.
Zuvor war er noch nie von Mutter und Vater weggewesen.
Ein empfindsamer Junge
Eines Tages im Jahr 1945 wartet ein schmächtiger Junge am Fährhaus. Er hält sich gerade noch aufrecht. Was er durchhat, weiß keiner.
Der Krieg hat ihn ausgespuckt. Sein Weg führte ihn von Polen zurück zu seiner Familie. Eine russische Ärztin hatte ihn beim Morgenappell ausgesondert, er war zu geschwächt, so runtergekommen, abgemagert, völlig fertig, noch ein halbes Kind. 16 Jahre alt. Er wäre in Kürze gestorben. Der Transport führte in russische Gefangenschaft. Die Ärztin entließ ihn. So kam er davon, musste sehen, wie er es nach Hause schafft. Teilweise zu Fuß, teilweise mit dem Zug. Die Russen waren überall. Er musste aufpassen, dass sie ihn nicht erneut aufgreifen. Er schlug sich durch Wälder, ruhelos, halb verhungert. Leichen lagen auf Feldern und an Straßenrändern, tote Tiere, ein Weg des Grauens. Die Bilder verfolgten ihn. Er kam auf dieser Seite der Elbe von irgendwo mit dem Zug im Herrenkrug an, schleppte sich über Lostau bis nach Hause.
Der Vater ist gerade mit den Tieren unterwegs. Die Mutter sammelt zusammen mit anderen Frauen Ähren auf den Getreidefeldern in Heinrichsberg. Das erfährt er von seiner Schwester.
Er geht zum Fährhaus runter, wartet dort auf die Mutter. Niemand beachtet ihn. Er hat nur einen Wunsch, dass die Mutter ihn in die Arme nimmt. Die Erinnerung an seine Mutter hat ihn bei seinem Kampf ums Überleben aufrecht gehalten.
Endlich löst sich die Fähre vom anderen Ufer. Sie treibt friedlich über die Elbe. Alles hier sieht nach Frieden aus. Er ist zu müde für große Aufregung, wartet still darauf, dass die Fähre anlegt. Die Frauen nähern sich. Er hört ihre Schritte, ihre Stimmen. Sie laufen bepackt mit Bündeln und Körben an ihm vorbei.
Auch seine Mutter. Sie erkennt ihn nicht und erschrickt, als er sie anspricht.
Und dann wollten sie ihm was Gutes tun, haben ihm ein tolles Essen aufgetischt. Daran wäre er beinahe gestorben. Der Arzt musste kommen und hat nur Haferschleim verordnet. Entweder schafft er es oder er schafft es nicht, sagt Gisela Ohlendorf. Wenn er es nicht geschafft hätte, wäre ich nicht auf der Welt.
Bloß kein Krieg
Gisela Ohlendorfs Mutter wohnte im Detershagener Weg zur Miete. Sie war das Kind eines Elbschiffers. Der fuhr als Steuermann auf einem tschechischen Lastdampfer. Auf seiner Fahrt zwischen Hamburg und der Tschechei hat er in Dresden eine Freundin gefunden, die er heiratete und mit nach Niegripp brachte. Nach dem Tod seiner Eltern ist die junge Familie auf eins der ältesten Grundstücke von Niegripp gezogen. Das Haus soll aus dem Jahr 1789 sein. Der Giebel geht unmittelbar in den Deich rein. Das wurde das Elternhaus der Schwestern Gisela und Ursula.
Wir sind Halbschwestern, unterbricht mich Gisela Ohlendorf.
Sie erzählt von den Kriegsjahren. Ihre Mutter arbeitete im Fliegerhorst, jetzt Waldfrieden, als Nachrichtenhelferin. Sie heiratete einen Soldaten. Der war aus Berlin. Er musste an die Front nach Russland und kam nie mehr zurück. Knapp über zwanzig und schon Witwe. Es ging vielen Frauen so, aber das war kein Trost. Ihr Kind kam zur Welt, eine kleine Ursula. Der Vater hat sie nie kennen gelernt. Der Mann ihrer Mutter, der Elbschiffer, starb 1942. Die beiden Frauen blieben allein auf dem Grundstück.
Meine Oma und meine Mutti waren ängstlich. Es waren ja auch gefährliche Zeiten. Sie waren oft im Schäferhaus, haben mitgeholfen. Schäfer Gustav wohnte da mit seinen drei Kindern. Meine Tante Elsa war die Älteste. Dann kamen Günter, mein Vater, und mein Onkel Gustav. Da gab es immer zu tun. Strümpfe stopfen, Wäsche ausbessern, waschen, bügeln.
Mein Vater hat sich körperlich nur langsam von den Kriegsereignissen erholt.
Meine Mutter war schon eine Frau mit Lebenserfahrung, als sie sich füreinander entschieden. Das tat den beiden gut. Ihr Kind war kein Problem für ihn. Sie verstanden sich gut. Meine Schwester konnte sich keinen besseren Vater wünschen. Er hat keine Unterschiede zwischen seinen Kindern gemacht.
Wenn wir gekocht haben, hat er immer aufgegessen. Wenn die Kinder nicht essen wollten, hieß es: Ihr wisst nicht, was Hunger ist. Ich hab das kennengelernt. Wirf Brot nicht weg. Das war in ihm so drin.
Meine Tochter sagt heute, Krieg war ein Trauma für ihn. Er hat es nie verarbeiten können, war einfach zu jung und ein sensibler Mensch. Ich höre meiner Tochter gern zu, wenn sie so etwas sagt. Sie ist verständnisvoll, obwohl sie solche schweren Zeiten nicht erleben musste. Auf meinen Sohn bin ich auch stolz. Er ist Kommissar geworden. Alle wohnen hier irgendwo hinterm Deich.
Gisela Ohlendorf sinnt ihren Worten nach. Bloß kein Krieg!